Von Wolfgang Lübcke
Giflitz. Der „Kalkrain“ bei Giflitz ist neben dem „Paradies“ bei Gellershausen eines der beiden kleinen Edertaler Naturschutzgebiete (NSG). Es hat nur eine Größe von 7,4 Hektar, ist aber aus botanischer Sicht ein Juwel.
Als einziges der Edertaler Naturschutzgebiete ist der steile, südostexponierte Hang auf der linken Seite des Wesetals unzugänglich, weil er nicht durch einen Weg erschlossen ist. Den besten Blick auf das Gebiet hat man von der Bundesstraße von Giflitz nach Bad Wildungen aus. Leider ist der dortige Parkplatz seit einigen Jahren gesperrt, weil hier illegal immer wieder große Mengen von Müll abgelagert wurden. Einen näheren, aber begrenzten Blick auf das Gebiet hat man von dem Feldweg aus, der von Giflitz aus durch das Wesetal nach Kleinern führt. Das Naturschutzgebiet wird durch den weit und breit schönsten, großflächigen Wacholderbestand geprägt. Das Nadelgehölz mit seinem meist säulenförmigen Wuchs galt den Schäfern als „Weideunkraut“, denn es wird von den Tieren wegen seiner stacheligen Nadeln nicht verbissen. Bis um 1950 wurden noch Schafe und Schweine in das Gebiet getrieben. Die Beweidung ist aber wichtig für die Erhaltung vieler Pflanzen- und Tierarten des Kalkrains. Deshalb sorgt dafür Schäfer Georg Schutte (Frankenau) mit seinen Heidschnucken im Auftrag der Oberen Naturschutzbehörde für die Pflege des Schutzgebietes. Geologisch besteht der Steilhang aus dolomitischem Kalkstein.
Dieser Boden ist leicht erwärmbar und infolge hoher Wasserdurchlässigkeit sehr trocken. Deshalb gedeihen hier viele Licht und Wärme liebende sowie Trockenheit ertragende Pflanzen. Bereits im März blühen zum Beispiel der Frühlings-Ehrenpreis und das Frühlings-Fingerkraut. Über die Vegetationsperiode hinweg bieten sich wechselnde Blühaspekte bis hin zum August mit der Sand-Strohblume.Die Sand-Strohblume ist eine kontinental verbreitete Art, die in Deutschland ihren Verbreitungsschwerpunkt in den Sandgebieten Nordostdeutschlands hat. Im Kreisgebiet existieren nur noch wenige Exemplare der hessenweit stark gefährdeten Steppenpflanze. Sie ist nur noch an einem Südwesthang der Stadt Waldeck zu finden und am Kalkrain bei Giflitz, wo sie früher deutlich häufiger war. Die weißwollige Behaarung des Korbblütlers dient als Strahlungs- und Austrocknungsschutz.
Die Wurzeln dieser Pflanze reichen als Anpassung an den trockenen Standort bis 70 cm tief. Als Orchideen-Arten sind am „Kalkrain“ Rotbraune Ständelwurz, Großes Zweiblatt und Fliegen-Ragwurz vertreten. Die Erdflechten-Gesellschaft im Bereich des Trockenrasens gilt aufgrund des Rückgangs geeigneter Lebensräume als bundesweit gefährdet. Am „Kalkrain“ wurden sieben Flechtenarten nachgewiesen, die auf der Roten Liste stehen. Unter den Gräsern herrscht das Pyramiden-Schillergras vor und auf kleinflächig anstehenden Felsen wächst das Polster bildende Kalk-Blaugras. Eine Besonderheit sind auch die vielen Rosenarten, zum Beispiel Feldrose und Kleinblütige Rose, zwei Wärme liebende, submediterrane und in Nordhessen seltene Arten. Die Kleinblütige Rose hat hier ihr bestes Vorkommen im Kreisgebiet. Das NSG war zwischenzeitlich stark zugewachsen. Bei einer „Pflegeaktion“ wurde der Wacholderbestand freigestellt. Von der undifferenzierten Entbuschung durch naturschutzfachlich unerfahrenes Personal waren auch die wertvollen Rosenarten betroffen. Aufgrund der sehr speziellen Lebensbedingungen hat das Naturschutzgebiet auch eine interessante Insekten-Fauna. Unter den neun Heuschreckenarten ist der Heide-Grashüpfer Charakterart beweideter Magerrasen. Unter den 77 nachgewiesenen Schmetterlingsarten sind 27 Tagfalterarten, bei denen an Mager- und Trockenrasen gebundene Arten überwiegen.
HINTERGRUND: Charakterart des Naturschutzgebietes „Kalkrain bei Giflitz“ ist der Wacholder, Baum des Jahres 2002. Der Nadelstrauch liebt Licht und Wärme, ist aber winterhart. Er kann mehrere hundert Jahre alt werden. Die sogenannten Wacholderbeeren sind botanisch eigentlich kleine runde Zapfen. Sie werden durch Vögel verbreitet. Am bekanntesten dafür ist die Wacholderdrossel, die auch Krammetsvogel genannt wird, denn der Wacholder wird auch Krammetsbaum genannt. Getrocknete „Wacholderbeeren“ dienen als Gewürz. Besonders gut kommt ihr Aroma in Wildgerichten und Sauerkraut zur Geltung. Sie dienen auch zur Würze von Schnaps wie Steinhäger und Gin. Der Rauch getrockneter Zweige dient zum Veredeln von Schinken. Wacholder ist aber auch eine Heilpflanze. Zum Beispiel wirken die Extrakte der „Beeren“ leicht entwässernd und können bei ersten Anzeichen einer Blasenentzündung helfen.
(Startseitenfoto: Hermann Sonderhüsken. Es zeigt das Naturschutzgebiet „Kalkrain“, im Hintergrund die Giflitzer Apfelallee und den Waldrand des Nationalparks.)